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Theater "Corpus Delicti"

Dudek: Hr. Wolff, kann man nach dieser Vorstellung noch behaupten, die heutige Jugend sei faul, ignorant und nur noch digital aktiv?

Wolff: Das ist wie mit dem gallischen Dorf. Solange Wenige gegen Faulheit, Ignoranz und soziale Kälte Widerstand leisten, kann man Ihre Frage doch guten Gewissens verneinen. Es ist doch so: Was diese jungen Menschen dort auf der Bühne geleistet haben, war außergewöhnlich und das auf vielen Ebenen. In erster Linie haben mich die Textsicherheit und das schauspielerische Miteinander in den Bann gezogen. Oftmals spielt jeder nur seine Rolle, ungeachtet des Gegenübers. Das war hier nicht so. Darüber hinaus waren die live vorgetragenen Stücke von Rio Reiser und „Ton Steine Scherben“ ein genialer Schachzug, die herzerwärmend interpretiert und in ihrer den Menschen und dem Leben zugewandten Attitüde ein tolles Gegengewicht zu den totalitären Ansichten darstellten, denen sich die „Methodisten“ in Zehs Stück verschrieben hatten.

CorpusDelicti2Dudek: Was ist falsch daran, wie die Anhänger „der Methode“, Gesundheit und Sicherheit für alle Menschen einzufordern?

Wolff: Die Forderung ist nicht das Menschenunwürdige, sondern die radikale Umsetzung in einem totalitären System, das sich als absolut ansieht und nur noch sich selbst schützt und nicht mehr die Menschen, wie man am Schicksal der Protagonistin Mia Holl sehen konnte.

Dudek: Gespielt von Miriam Eyer und Anna-Marie Hernig.

Wolff: Großartig und überzeugend gespielt.

Dudek: Ihr Gegenspieler Heinrich Kramer, überzeugend gespielt von Valentin Hahn, argumentiert unter Zuhilfenahme von Rationalität und unbestreitbaren Fakten. Nämlich, dass in der Mitte unseres aktuellen Jahrhunderts, denn dort ist das Stück zeitlich angesiedelt, Krankheiten ausgerottet und Schmerz und körperliches Leiden der Vergangenheit angehören werden. Klingt doch traumhaft, oder?

Wolff: Aber zu welchem Preis? Der totalen Überwachung und der Aufgabe individueller Entfaltungsmöglichkeiten. Sogar der Wald als potenzieller Überträger von Keimen und Bakterien ist als Aufenthaltsort verboten. Hieß es nicht in einem Rio Reiser Text: „Ich will fliegen, tauchen, rasen, will nicht Angst, ich will Gefahr. Ich will leben, will mich fühlen...“ Das ist doch der Keim der Jugend und des Lebens. Deswegen habe ich mir das Stück so gerne angesehen. Weil Menschen und vor allem die jungen aufbegehren müssen. Auch gegen die Alten und gegen das, was aus ihrer Sicht zwischen ihnen und ihrem persönlichen Glück steht. Oftmals sind es eben die Rationalität oder systemische Vorgaben. Mia Holl kämpft gegen ein falsches Urteil an, das über ihren Bruder Moritzverhängt worden ist.

Dudek: Wild und frei verkörpert durch Moritz Gatzke.

Wolff: Unbedingt. Er wird durch eine DNA-Analyse des Mordes überführt, was sich letzten Endes aber als fehlerhaftes Urteil „der Methode“ herausstellt. Ausgangspunkt ist Mias Gefühl, dass ihr Bruder das nicht getan haben kann.

Dudek: Mia Holl wird letztlich ebenfalls angeklagt, weil sie eine Gegnerin „der Methode“ sei und Volkshetze betreibe. Ihr Verteidiger Lutz Rosentreter, gespielt von Stephen Roth, lässt sie am Ende im Stich und knickt vor dem totalitären System ein. Was sagt uns das?

Wolff: Was uns das sagt? Dass wir Menschen sind und keinesfalls perfekt oder unfehlbar. Dieser junge Mann hat das in seinem Spielen schon erahnen lassen, dass er womöglich zu schwach ist, um bis zum Letzten Widerstand zu leisten. Das war eine große Leistung.

Dudek: Die Inszenierung arbeitete mit Projektionen und einem Minimum an Requisiten. So wurden Holzquader zur Gestaltung verschiedener Räumen genutzt. Am Ende wurden, untermalt von dem Lied „Menschenfresser“, sowohl Bilder von vergangenen und aktuellen Diktatoren als auch Portraits von aktuellen Menschenverachtern gezeigt. Wie fanden Sie diese Idee?

Wolff: Bedrückend. Totalitäre Systeme sind lange noch nicht überwunden und vor allem nicht das zugrundeliegende Gedankengut. Umso wichtiger ist es, dass dieses junge Ensemble, übrigens auch die sogenannten Bösewichter, Juristen und Mitläufer, die man für ihre Verbohrtheit wachrütteln will, in uns Fragen aufwerfen. Im Sinne von: In welcher Welt, in welcher Gesellschaft wollen wir leben? Oder: Wie viel ist uns unsere Freiheit wert? Wir haben also ein großes Plädoyer für Meinungsfreiheit und Ablehnung eines absoluten Wahrheitsanspruchs gesehen. Doch solange es solche jungen Menschen gibt, die sich reflektiert und mit solch einer Beharrlichkeit, denn Theater ist harte Arbeit, mit diesen Themen auseinandersetzen, ist mir um die Jugend und die Zukunft nicht bange.

Dudek: Das gesamte Publikum hat die Leistung der Schauspieler durch stehende Ovationen gewürdigt.Eine exzellente Inszenierung?

Wolff: Ohne Zweifel.

Dudek: Für die die Regisseure Martin Müller und Christian Schmitz sowie Michael Faus als musikalischer Leiter verantwortlich zeichneten. Hatten Sie Gelegenheit mit Ihnen zu sprechen?

Wolff: Leider nicht. Aber ich spreche ihnen an dieser Stelle meine Hochachtung aus. Und ein „Weiter so“.

Dudek: Gibt es noch einen Akteur, den sie besondersherausheben möchten?

Wolff: Ausnahmslos sind alle Akteure zu loben. Aber wenn sie so fragen: Die Nebenrolle des Journalisten Würmer, dargestellt von David Grünewald, hat mich begeistern können.

Dudek: Vielen Dank für das Gespräch.

Wolff: (grinst) Santé.

CorpusDelicti1In weiteren Rollen: Tabita Bomhard, Anna Heinrich, Anna Keber, Annalena Fritz, Joshua E. S. Rodrigues, Magdalena Keller, Nils Gauch, Sofie Brandes, Gundula Hellgren, Sarah Jung, Elisabeth Keller, Hannah Günster

Die Band:  Tabita Bomhard (voc), Christian Dietze (kb), Michael Faus (perc), Valentin Hahn (voc), Marietta Hüttemann (p, vl, voc), Sarah Jung (voc), Levi Liepe (git), Kaya Petermann(voc), Kaya Petermann (voc), Joshua E. S. Rodrigues (voc), Lúcia Rodrigues (fl), Franziska Schumacher (vl, voc), Hanna Thelen (git)